Edeltrud Meistermann „Studienausgabe Band III“

EDITORIAL

Das Lehrgebiet von Edeltrud Meistermann an der Kölner Universität hieß „Psychoanalytische Probleme der Soziologie“. René König, seit 1949 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie in der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät der 1919 wiedergegründeten Universität, konnte sie1956 für sein Forschungsinstitut gewinnen. Noch während des Krieges 1944 war Meistermann über das Thema „Leitfaden der Bilder. Versuch einer neuen Grundlegung der Persönlichkeitserfassung durch den Rorschach-Test“ unter ihrem Mädchennamen Lindner promoviert worden. Schon im Sommersemester 1947 las  sie über „Allgemeine Tiefenpsychologie“ und füllte seither die Hörsäle. Der Lehrerfolg war überwältigend, so dass die Fakultät die Ernennung zur Honorarprofessorin am 21. Februar 1963 nach vielen Widerständen durchsetzen konnte.
Im selben Jahr datiert die Gründung der Psychoanalytischen Abteilung im Forschungsinstitut für Soziologie, die sie von da an leitete. „Damit hatte sich die psychoanalytische Lehre und Forschung endgültig an der Universität zu Köln etabliert“, wie ihr Kollege, der Finanzwissenschaftler  Klaus Mackscheidt, als Dekan und langjähriger Präsident der von Meistermann 1965 gegründeten Deutschen Gesellschaft für sozialanalytische Forschung e.V.  im Nekrolog herausstellte, veröffentlicht in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“, März 2000. Mackscheidt ließ es sich darum auch nicht nehmen, in diesem Band die von Meistermann entwickelte „Sozialanalyse“ zu würdigen, die er richtungweisend mit seinem Schweizer Kollegen Guy Kirsch auf die Finanzwissenschaft übertragen hat. Womit zugleich Meistermanns Anspruch zum Ausdruck kommt, dass ihr Lehrangebot ausdrücklich an Studierende aus allen Fakultäten, einschließlich der medizinischen, gerichtet war – das Nachwort von Bernd Obermayr sollte eine willkommene Ermutigung sein.
Wie kenntnisreich und umfassend Meistermanns Wissen war, zeigt ihre Synopse, die sie unter dem Titel „Der Beitrag der Psychoanalyse zur Soziologie“ für das unübertroffene 15-bändige Lexikon des Kindler Verlages „DIE PSYCHOLOGIE DES 20. JAHRHUNDERTS“ in Band II „FREUD UND DIE FOLGEN (I)“ verfasste, was darum auch an den Anfang dieses Buches gehört. Dieser „tour d’horizon“ stellt die Summe ihrer Forschung dar, während die dann folgenden Vorlesungen erlauben, sich von Grund auf in die Materie einzuarbeiten – am Anfang in aller Ausführlichkeit und am Ende auf das Äußerste verdichtet – siehe ihre Vorlesung „Psychoanalytische Soziologie“, gehalten am 15. Oktober 1972.
Dank ihrer Ausbildung zur Psychoanalytikerin in England durch Michael Balint sah sie von Anfang an angesichts der von Melanie Klein initiierten Psychosenforschung die gesellschaftlichen Implikationen. Sie griff auf, was Johann Friedrich Herbart, der Nachfolger auf den Lehrstuhl von Kant,  erkannt und zu der These veranlasst hatte, dass die sozialen Bedingtheiten auf die konkrete Person einen stetigen Einfluss ausüben und jedes psychologisch definierbare Handeln eines Individuums eine soziale Komponente hat.
Ähnlich wie Wilfred R. Bion gelang es ihr, analog zum Korpuskel- und Wellencharakter des Atoms, das Paradoxon „Mensch“ in seiner Doppelnatur von Individuum wie Gruppenwesen zu deuten. Adornos berühmter, in „SOCIOLOGICA II“ veröffentlichter Versuch, dieses Vexierbild zu fassen, muss als gescheitert angesehen werden, weil er letztlich seinen Individualismus nicht als Gesellschaftsform begriff. Meistermann dagegen zeigt auf, wie wir unsere Individualität behaupten können, ohne unsere Gruppennatur ausblenden zu müssen. Angesichts der Katastrophen, die gerade wir Deutsche wegen des „Rückzugs ins Private“ heraufbeschworen haben, können wir von ihr lernen, wie wir nicht mehr von den immer wieder in Krisen ausbrechenden kollektiven Zwangsvorstellungen mitgerissen werden.
Wie Freud beim Briefwechsel mit Einstein, der 1932 unter dem Titel „Warum Krieg?“ erschien, war Meistermann hinsichtlich unserer Zukunftsaussichten durchaus skeptisch. Das Bonmot von Paul Valéry „Optimisten sehen schlecht“ hätte auch von ihr stammen können. Ihr ganzes Bemühen folgte entsprechend der Aufforderung Kants, der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ zu entrinnen, ohne dabei zu ignorieren, dass jeder von uns Zeit seines Lebens Defizite aufweist, die nicht durch Geld und gute Worte aus der Welt geschafft werden können.
Wie man sich mit seinen Stärken und Schwächen dennoch nützlich machen und dabei friedlich bleiben kann, zeigte sie in ihren Analysen der Charakterstrukturen der sog. Gastarbeiter, die Mitte der 1950er Jahre in Köln Arbeit und damit neue Lebensmöglichkeiten suchten. Wir haben darum diese ihre Beiträge ausgewählt, die wir der 1970 im Westdeutschen Verlag erschienenen und von Karl Bingemer, Edgar Neubert wie ihr im Auftrage der Stadt Köln herausgegebenen Großstudie „Leben als Gastarbeiter – Geglückte und missglückte Integration“ entnehmen. Das statistische Material ist hier ausgespart wie auch bei der mit Karl Bingemer erarbeiteten Studie „Psychologie des Automatenspiels“ – es hätte den Rahmen dieses Bandes gesprengt.
In Band II unserer auf sechs Bände angelegten Studienausgabe wird selbstverständlich auf die von Meistermann verbesserten wie eigens entwickelten empirischen Methoden und Testverfahren eingegangen. Sie war sich für die so oft als „Fliegenbeinzählerei“ verspotteten empirischen Verfahren nicht zu schade, im Gegenteil. Denn um nicht im ebenfalls verspotteten „Elfenbeinturm“ der Kulturphilosophie gefangen zu bleiben, sicherte sie ihre Anamnesen durch psychoanalytisch wie soziologisch validierte Interviewtechniken ab. Um schon einmal einen Einblick zu verschaffen, verweisen wir auf den mit Helga Blazy veröffentlichten und hier aufgenommenen Aufsatz über das sog. „Ausreißer-Ich“, ein Beitrag, der zudem von großem Interesse sein dürfte, weil er mit dem Vorurteil aufräumte,  der Gastarbeiter sei ein Schwächling, der im eigen Land nichts zustande gebracht habe und darum auch im Gastland scheitern müsse.
Angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs, der sich nicht zuletzt in der Fragilität der Geldwirtschaft zu erkennen gibt, haben wir es für angebracht gehalten, mit diesem Band, eben weil in dessen Mittelpunkt die von Meistermann entwickelte Sozialanalyse steht, die Veröffentlichung ihrer Schriften zu beginnen. Denn durch die Sozialanalyse wird erkennbar wie unabweisbar, dass der für das Gesellschaftliche zuständige jeweilige Politiker unsere eigenen guten wie schlechten Verhaltensweisen repräsentiert, also widerspiegelt. Die repräsentative Demokratie stellt uns mit der Stimmabgabe also nicht frei von Verantwortung: Denn indem wir den Politiker wählen, gehen unsere Hoffnungen und Wünsche auf ihn über, die aber fehlgehen, wenn wir ihn sich selbst überlassen.
Dass damit der Mechanismus der Sündenbocksuche ausgelöst wird, das zeigt uns hier immer wieder Meistermann und so erklärt sie uns endlich, auch die Funktion der Religion zu verstehen, die letztlich keine andere Aufgabe hat, als die Würde des Menschen zu sichern – so das Fazit ihrer Aufsatzes „Wahrnehmung und Glauben – Wie Glauben entsteht und übersteht“.
In diesem Sinne wünschen wir Band III viele Leser, für dessen Erscheinen wir insbesondere Meistermanns Sohn Claus Bingemer danken möchten. Ebenso gilt unser Dank dem Kindler Verlag und dem Westdeutschen Verlag, die uns den Abdruck der bei ihnen erschienenen Beiträge erlaubt haben.

Köln, im Juni 2010

Die Herausgeber

Dr. Rolf-Arno Wirtz, Dr. Hans-Georg Fey, Dr. Helga Blazy, Bernd Obermayr und Dipl.-Psych. Jürgen Vogt

Edeltrud Meistermann
Studienausgabe Sozialanalyse Band III
395 Seiten, Paperback
Ladenpreis 60.- €
ISBN 978-3-942800-00-6

 

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